Jubiläum der AG DRauE 2022

„Diagnose verstaubt“: 20 Jahre AG DRauE - Aufklärung, Fortbildung, Fortbestand

 
Asbestbedingte Pleuraverkalkungen Am 09.05.2002 fand die konstituierende Sitzung des Vorstandes der AG „Diagnostische Radiologie bei berufs- und umweltbedingten Erkrankungen“ der Deutschen Röntgengesellschaft statt. Dieses 20-jährige Jubiläum zum Anlass nehmend, möchten wir die Arbeit unserer AG in den Fokus setzen.

Schon 1968 gab es Anregungen der DRG, eine Kommission für Staublungenerkrankungen unter der Leitung von Dr. Heinz Bohlig (1916-2002) ins Leben zu rufen. Von 1984 bis 2002 war Dr. Kurt G. Hering der Vorsitzende dieser AG. Die 2002 neu ins Leben gerufene AG setzt die Aktivitäten der bisherigen Arbeitsgemeinschaft „Diagnostische Radiologie bei berufs- und umweltbedingten Erkrankungen fort und befasst sich mit arbeitsbedingten Erkrankungen der Lunge und des Skelettsystems. Ihr erster Vorsitzender war PD Dr. S. Tuengerthal, weitere Gründungsmitglieder waren Dr. K. G. Hering, PD Dr. H. G. Hieckel und PD Dr. K. Hofmann-Preiss. Das sicher nicht unbewusst gewählte Leitthema des 74. Deutschen Röntgenkongresses 1993 unter dem Kongresspräsidenten Dr. Kurt G. Hering wurde zu seiner Passion: „Diagnostik der arbeits-, umwelt- und sportbedingten Erkrankungen“.

Silikose Die Diagnose einer Erkrankung stellt aus Sicht der Arbeits- und Umweltmedizin meist den Endpunkt nach langer Einwirkung von Risikofaktoren auf den Organismus dar. Aus seiner Eröffnungsrede zum Kongress 1993 zitiere ich Dr. Hering: „Ich habe in der Zusammenarbeit mit Arbeits- und Sozialmedizinern gelernt, auf Dinge zu achten, die wir in der Alltagsdiagnostik eher unterbewerten, da sie zunächst keinen Krankheitswert besitzen. Diskrete Pleura- und Lungenparenchymveränderungen beeinträchtigen den Patienten in keiner Weise und sind klinisch irrelevant. Stellt sich aber die Frage nach seiner weiteren beruflichen Beschäftigung und damit dem Erhalt seines Arbeitsplatzes oder die Zusammenhangsfrage zwischen einer Asbestexposition vor vielen Jahren und einem Lungenkarzinom, können die geringsten Hinweise bereits von Bedeutung sein.“ Die Verbindung der Arbeitsgemeinschaft zu berufsbedingt relevanten Fachbereichen war von Beginn an ein Schwerpunkt der Arbeit und wurde über die Jahre intensiviert.

Einblicke und Ausblicke

Im Rahmen der Recherche zum Jubiläum „20 Jahre AG DRauE“ hat die aktuelle Vorsitzende der AG, Dr. Kathrin Ludwig, mit Mitgliedern und ehemaligen Vorsitzenden der AG über wichtige Themen und die Zukunft der AG-Arbeit gesprochen.

Dr. Ludwig: Herr Dr. Hering, neben der Organisation und Durchführung intensiver Weiterbildung für Radiologinnen und Radiologen sowie Nichtradiologinnen und Nichtradiologen haben Sie die Beziehungen zu Berufsgenossenschaften, Gesetzgebern und anderen Fachgesellschaften aufgebaut. Ebenso sind die Aktivitäten in internationalen Gremien, insbesondere der ILO, der Internationalen Arbeitsorganisation, zu erwähnen. Was waren die Herausforderungen der ersten Jahre?

Dr. Kurt Hering © PrivatDr. Kurt G. Hering: Zur Beurteilung von Erkrankungen und Unfallfolgen des Skelettes und für die Erkennung der Silikose, der ältesten Gewerbekrankheit, die bereits von Paracelsus beschrieben und 1929 in Deutschland in die Liste der Berufskrankheiten aufgenommen wurde, war die Radiologie von Beginn an etabliert. Als bekannt wurde, dass nicht nur die Inhalation quarzhaltiger Stäube, sondern auch die Inhalation weiterer Schadstoffe – zum Teil mit sehr langen Latenzzeiten wie bei Asbestfasern - für die Lunge und die Pleura potenziell fibrogen oder auch kanzerogen ist, kam der Radiologie auch in der Dokumentation und Klassifikation dieser berufsbedingten Erkrankungen der Lunge zunehmende Bedeutung zu. Grundlegende Arbeiten zu den Folgen der Asbestexposition an Lunge und Pleura wurden bereits 1955 von deutschen Autoren, insbesondere von Heinz Bohlig, publiziert. Die erste standardisierte internationale Klassifikation von Staublungenerkrankungen (Pneumokoniosen) anhand der Thoraxübersichtsaufnahme wurde dann 1957 von der ILO vorgestellt.

Besonderen Wert legte die AG DRauE auf die Einführung von standardisierten Untersuchungsabläufen und auf die Vermittlung von Kenntnissen über international anerkannte Klassifikationsschemata, der ILO-Klassifikation der Thoraxübersichtsaufnahme und der semiquantitativen HRCT-Klassifikation nach ICOERD, bei berufsbedingten Skeletterkrankungen die semiquantitativen Beurteilungsschemata bei degenerativen Wirbelsäulenveränderungen und neuerdings auch bei der Gonarthrose. Ein weiteres wichtiges Projekt der Arbeitsgemeinschaft war die nationale und internationale interdisziplinäre Zusammenarbeit mit der Arbeitsmedizin und der Pneumologie auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Forschung bei berufsbedingten Erkrankungen der Lunge. Auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Unfallchirurginnen und -chirurgen sowie Orthopädinnen und Orthopäden auf dem Gebiet der berufsbedingten Skeletterkrankungen war Teil der Aktivität der AG. Die Arbeitsgemeinschaft hatte sich zum Ziel gesetzt, als Bindeglied zu den Berufsgenossenschaften radiologisches Fachwissen in die Abläufe der nachgehenden Untersuchungen und der Begutachtung einzubringen. Viele Mitglieder waren in diesem Bereich in beratender Position tätig.

Dr. Ludwig: Herr Dr. Hering, wie ist der Stellenwert der Radiologie bei berufsbedingten Erkrankungen?
Dr. Kurt G. Hering: Jährlich wird in ca. 60.000 Fällen der Verdacht auf das Vorliegen einer Berufskrankheit geäußert. Der überwiegende Teil der dann anerkannten Berufskrankheiten (etwa 23.000) sind solche der Lunge und des Skelettsystems. Im Jahr 2007 wurden allein 2.050 neue Fälle mit gutartigen asbestbedingten Erkrankungen der Lunge und/oder der Pleura und 613 Silikosen festgestellt, im gleichen Zeitraum traten zusätzlich 1.822 bösartige Erkrankungen der Lunge oder Pleura neu auf. Dies sind 18 Prozent aller im Jahr 2007 erstmals diagnostizierten Malignome der Lunge. Da insbesondere bei asbestbedingten Erkrankungen Latenzzeiten von bis zu 30 Jahren und länger bestehen und das Asbestverbot in Deutschland erst seit 1993 gilt, ist davon auszugehen, dass die Anzahl der asbestbedingten Malignome in den nächsten Jahren noch ansteigt. Bei der Erstdiagnose, der Verlaufskontrolle mit Heilungsbewährung und der Zusammenhangsfrage mit der beruflichen Tätigkeit bleibt die Expertise der Radiologinnen und Radiologen heute so aktuell und wichtig wie seit der Einführung der Röntgendiagnostik vor mehr als 100 Jahren.

PD Dr. Karina Hofmann-Preiss © PrivatDr. Ludwig: Frau PD Dr. Hofmann-Preiß, Sie haben die Arbeit der Vorgänger erweitert und neue Aufgabenfelder akquiriert. Was begründet die Relevanz der AG DRauE in der heutigen Zeit?
PD Dr. Karina Hofmann-Preiß: Heute liegt der Schwerpunkt der AG auf dem Gebiet der pulmonalen Berufskrankheiten. Dazu gehört auch die Mitarbeit an Leitlinien zur Diagnostik und Begutachtung dieser Erkrankungen sowie die Qualitätssicherung der radiologischen Diagnostik auf diesem Gebiet. Schwerpunkte der Arbeitsgemeinschaft in Deutschland sind:

  • Die Vermittlung der besonderen radiologischen Befunde arbeits- und umweltbedingter Erkrankungen und ihrer Differentialdiagnosen im Rahmen von Fortbildungen der DRG aber auch der DGP (Deutsche Gesellschaft für Pneumologie) und der DGAUM (Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin) und der DGUV (Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung).
  • Die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten in der seit ca. 60 Jahren speziell für pulmonale Berufskrankheiten international eingesetzten standardisierten semiquantitativen Befundung von Thoraxaufnahmen nach ILO und der seit mehr als 20 Jahren international eingesetzten standardisierten semiquantitativen Befundung von Computertomographien des Thorax nach ICOERD.
  • Da die radiologischen Befunde wesentlicher Bestandteil der Begutachtung sind, werden in diesen Fortbildungen auch - für die Beurteilung der Untersuchungen erforderliche - Kenntnisse zu den Arbeitsplätzen / Arbeitsbedingungen sowie mediko-legale Grundlagen der Begutachtung vermittelt.

Auf internationaler Ebene haben Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft beginnend mit Heinz Bohlig in Arbeitsgruppen Grundlagen für die Entwicklung der Kodierung nach ILO und ICOERD gelegt und an deren Weiterentwicklung einschließlich der Erstellung der Standardfilmsätze mitgearbeitet. In Deutschland dienen die Ergebnisse der Kodierung nach ILO und ICOERD als Anzeigekriterien für das Vorliegen einer Berufskrankheit.  Aus diesem Grund ist bei der Anwendung radiologischer Untersuchungen das ALARA-Prinzip vorrangig zu beachten.

Nachdem in der Literatur eindeutig gezeigt werden konnte, dass die Thoraxaufnahme auch zur Erkennung benigner arbeits- und umweltbedingter Erkrankungen nicht geeignet ist, wurde in den AWMF-Leitlinien nach 2008 die Computertomographie als „Goldstandard“ für den Nachweis einer pulmonalen Berufskrankheit eingeführt.  Bereits 2009 hat die AG ein spezielles Niedrigdosis-CT-Protokoll veröffentlicht. In der Folge ist in Zusammenarbeit mit einem Physiker daraus ein an unterschiedlichsten CT-Geräten einsetzbares Protokoll entstanden, das bei Einhaltung unabhängig von der durchführenden Institution eine vergleichbare Bildqualität bei intraindividuell niedrigster Dosis ermöglicht. Das Protokoll kommt in dem durch Mitglieder der AG DRauE mit entwickelten Früherkennungsprogramm für Lungenkrebs bei ehemals asbestexponierten Arbeitnehmern „EVA-Lunge - Erweitertes Vorsorgeangebot der DGUV zur Früherkennung von Lungenkrebs im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge und für Versicherte mit anerkannter BK-Nr. 4103“ zum Einsatz.

Dr. Beate Rehbock © PrivatDr. Ludwig: Frau Dr. Rehbock, welche Themen werden für die AG in den folgenden Jahren von Bedeutung sein?
Dr. Beate Rehbock: Hauptaufgabe unserer AG wird auch für die Zukunft sein, das Interesse an der immer aktueller werdenden Problematik der arbeits- und umweltbedingten Erkrankungen innerhalb der Radiologie zu wecken und insbesondere die Jüngeren für eine aktive Mitarbeit zu begeistern. Gerade die besondere Spezifik der häufig unmittelbar greifbaren sozialrechtlichen Konsequenz der radiologisch begründeten Anerkennung einer Berufskrankheit motiviert, sich mit diesem umschriebenen Spezialgebiet zu beschäftigen. Die ständige Weiterentwicklung unserer, manchmal als "old fashioned" belächelten AG ist insbesondere an dem Projekt des Erweiterten Vorsorgeangebots für ein asbestexponiertes Risikokollektiv abzulesen, für das allgemeingültige Qualitätsstandards für Niedrigdosis-CTs erarbeitet wurden. Für die Zukunft ist, in Kombination zum Einsatz bestimmter Biomarker, eine Erweiterung auf die CT-Früherkennung von Pleuramesotheliomen denkbar.

Bezüglich der Themen bin ich davon überzeugt, dass uns aufgrund der langen Latenzzeiten sowie weiterer Expositionsquellen in In- und Ausland unser Hauptgebiet der Quarz- und Asbeststaub-bedingten Erkrankungen weiterhin maßgeblich beschäftigen wird. Nach der BK-Statistik hat sich auch in den letzten Jahren ein weitgehendes Plateau der BK-Fälle fortgesetzt. An der Diagnose und Begutachtung hat die Radiologie einen ganz entscheidenden Anteil. Interessant wird sein, ob uns die modernste Technik, wie zum Beispiel die Photonen-CT, noch detailreichere Informationen liefert und die Diagnose und damit die Anerkennung der Berufskrankheit möglicherweise zeitlich vorverlegt werden kann. Bei den jetzt schon häufig diskreten radiologischen Zufallsbefunden wird uns die künstliche Intelligenz demnächst sicher helfen.

Die noch nicht überwundene Pandemie hat uns aber auch gezeigt, dass wir von heute auf morgen mit neuen Krankheitsbildern konfrontiert sein können. Im Fall von Covid-19 geht es jetzt im Rahmen von Begutachtungen bei infiziertem Personal im Gesundheitswesen um die radiologische Feststellung und Ausdehnungsbeurteilung pleuropulmonaler postinfektiöser Folgezustände, wie zum Beispiel fibrosierender Veränderungen. Die semiquantitave Beschreibung nach ICOERD-Klassifikation eignet sich auch hier als praktikables Instrument zur Dokumentation.

Dr. Kathrin Ludwig © PrivatDr. Kathrin Ludwig: Das sind Themen, die wir neu in unsere Betrachtungen einbeziehen sollten. Damit ergibt sich auch die Frage, wie eine bestehende Berufskrankheit (zum Beispiel Silikose oder Asbestose) die Verläufe einer Covid-19 Pneumonie beeinflusst und ob das Konsequenzen für eine Entschädigung haben wird, was wir derzeit aber noch nicht einschätzen können.
Dr. Beate Rehbock: Im Rahmen der Klimadiskussion, aber natürlich auch beruflich, könnten auch die ultrafeinen, alveolengängigen Nanopartikel durch vielfältigste Feinstaubexpositionen von Bedeutung sein. Als Schädigungsmuster sind chronisch-entzündliche Veränderungen an den Atemwegen bislang bekannt. Der Kausalitätsrückschluss der uncharakteristischen bildgebenden Veränderungen gelingt radiologisch derzeit natürlich nicht. Es bleibt aber abzuwarten, welche technischen Innovationen oder andere Aspekte hier unter Beteiligung der Radiologie in Zukunft einen Beitrag leisten könnten.

Dr. Kathrin Ludwig: Haben Sie alle vielen Dank für die interessanten Aspekte und Betrachtungen der Tätigkeiten unserer Arbeitsgemeinschaft. Wir hoffen, mit dieser wichtigen „Nische“ ein interessantes Aufgabenfeld für Nachwuchsradiologinnen und -radiologen und bisher unentschlossene Radiologinnen und Radiologen, die sich in unserer AG engagieren möchten, betrachtet zu haben. Gern möchte ich abschließend die konstruktive Zusammenarbeit mit Ärztinnen und Ärzten der Arbeitsmedizin, der Pneumologie und der Pathologie erwähnen, die auch teilweise Mitglieder der AG DRauE sind. Umgekehrt sind Mitglieder aus unserer AG in Arbeitsgemeinschaften anderer Fachgesellschaften und in Arbeitsgruppen von Berufsgenossenschaften aktiv beteiligt. Diese Interdisziplinarität bleibt Motor unserer Tätigkeit und ermöglicht andere Sichtweisen auf die Thematik berufsbedingter Erkrankungen.

Kathrin Ludwig
Vorsitzende der AG DRauE

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veröffentlicht am Mittwoch, 15. Juni 2022